in: MenschTelefon. Aspekte telefonischer Kommunikation, Edition Braus, Frankfurt 2000
Hallo Telefon!-Stimmiges und Unstimmiges zur (Telefon)stimme
Wenn Hans-Jörg Schall, nomen est omen, Gesangslehrer und Sänger in Köln, unbedarften Schülern die Angst vor Schall und Resonanz nehmen will, lässt er sie zunächst einige Wort- und Lautkombinationen durch die Runde geben: Psst, hey, Pssst, hey, mit vieeeeeel Geffüüüüüühhl, dann auch mal was Nasales und – weil es alternativ zugeht: SojaaaaaBoooohhhne!!! Sojaboohne!! Wenns dann noch nicht grooovt, hilft nur noch eins: Hallo Telefon!!! “Halloooh Telefooon”, gar als “Hal Hal Halloooh Telefooon”, dazu den selbstgeclappten Backbeat a la Schall, mit dem er einem seiner grossen Vorbilder huldigt: a Ernst, clapp, a Mosch, clapp, a Ernst, clapp, a Mosch, clapp, und wieder: Hal Hal Halloooh Telefooon!
Eine Wort-Kombination, die erfahrungsgemäß keinen auf dem Stuhl hält. Es ist Bestandteil unserer Sozialisation, kulturell eingeübt, dass der Ruf des Telefons – der Ruf ans Telefon auch – uns in Bewegung bringt. Dazu Hallo. Halloooh! Es wurde nicht von ungefähr in den Urzeiten telefonischer Kommunikation dieses Wort auserkoren, die Nummer 1 zu werden. In Amerika. Denn ein “Hallo” reicht weit. Und weit zurück.
In den Anfangstagen des Telefonierens, ca. 1877, war es Thomas Alva Edison, der geniale Erfinder des Kohlekörnermikrophons, des Phonographen und der Kohlenfadenlampe, dem neben mehr als 1000 patentierten Erfindungen auch dieses “Hallo” zu verdanken ist. Edison, beauftragt von der Bell-Konkurrentin Western Union Telegraph Company, war in die technische Entwicklung und Verbesserung des Telefons involviert. Niemals, so schrieb er in einem Brief über die schlechte Übertragungsqualität der ersten Bell-Hörer, habe man solch ein Geräusch und Summen gehört wie aus diesen alten Apparaten ohne Mikrofon. [1]
Edisons Vorstellung vom Telefon war zu der Zeit die, dass es sich um eine nach beiden Seiten offenen Verbindung zwischen Geschäftspartnern handelt. Dieses System warf die Frage auf, wie das Gegenüber vom Gesprächswunsch des Partners erfahren könnte: Ich glaube nicht, dass wir eine Rufglocke brauchen, denn “Hallo!” ist in 10 bis 20 Fuß Entfernung zu hören, war der Vorschlag des schwerhörigen Edison, der auch in das Mundstück des von ihm erfundenen Phonografen als erstes “Halloo” gerufen haben soll.
“It was a word of destiny”, heisst es dazu in einer Ausgabe der New York Times. Das “What is wanted”, das im deutschen Reich als “Was beliebt? ” zur standardisierten Meldeformel der Vermittlungsbeamtinnen wurde, setzte sich in den USA ebenso wenig durch wie “Ahoy”, der vom Telefonerfinder Bell favorisierte Meldegruss: “By 1880, hello had won out”. [2]
Drei Jahre zuvor, im Oktober 1877, hatte Heinrich von Stefan, Generalpostmeister in Berlin, ein erstes Paar Bell-Hörer als Geschenk erhalten. Bereits in den Monaten zuvor war in einigen Zeitungen und Zeitschriften über die neue Erfindung berichtet worden, die der Taubstummenlehrer Alexander Graham Bell in Boston entwickelt hatte. Im November erscheint in der Deutschen Verkehrs-Zeitung, dem “Organ für das Post-Telegraphen-und Eisenbahnwesen”, der Abdruck eines Vortrags über das Telefon: “Es werden durch den von Bell konstruirten Apparat sowohl musikalische Töne mit der Eigenartigkeit ihrer Klangfarbe, als auch Geräusche von dem Gebenden zu dem Nehmenden Apparate wiedergegeben.”
Ferner sei, so der Verfasser weiter, noch die Erscheinung zu erwähnen, dass Gesang durch das Telephon verschönert werde und dass die Rauheiten des Organs durch dasselbe abgeschliffen würden.
Noch einmal betont er, dass nicht nur Worte durch das Instrument wiedergegeben würden, sondern auch die verschiedenen Klangfarben, dass eben die Stimmen der verschiedenen Sprechenden erkannt wurden.[3]
Somit handelt es sich tatsächlich erstmals um eine Kommunikationsform, die das Gegenüber individuell und unmittelbar “sichtbar” werden lässt. In der “Daheim”-Ausgabe vom Dezember 1877 wird ebenfalls die Qualität der Sprachübertragung beschrieben:
“Unter Voraussetzung richtiger Anlage der Leitung, setzt der Sprecher in A den Mund an das Mundstück, wie es beim Sprachrohr geschieht, und spricht mit gewöhnlicher Stimme, natürlich deutlich in den Apparat hinein, in demselben Augenblick hört der Empfänger in B, der das Instrument an das Ohr zu halten hat, die gesprochenen Worte mit einer Deutlichkeit, die sich nicht allein auf Vokale und Konsonanten, sondern auch auf die Klangfarbe des Gesprochenen bezieht; ist der Hörer mit den sprechenden Personen bekannt, so kann er z.B. mit Leichtigkeit die einzelnen Stimmen unterscheiden. Es macht einen überwältigenden Eindruck, aus dem so unscheinbaren Instrument plötzlich Worte zu vernehmen, die aus einem tiefen Schacht zu kommen scheinen und durch die erlittene Abschwächung einen geisterhaften Charakter angenommen haben.”[4]
In der “Illustrirten Zeitung” wird Ende 1881 dann hervorgehoben, dass jetzt – nach der Erfindung des Mikrofons – selbst leise Töne in dem empfangenden Apparate gut hörbar gemacht werden, während man bisher leider habe sehr laut und direkt in das Mundstück des “articulierenden Fernsprechapparates” sprechen müssen.
So gut sei der Klang, dass bei telefonischer Opernübertragung – in den Anfangsjahren der Telefonie in einigen Großstädten möglich – für den Hörer eine vollkommene Illusion ermöglicht werde, so dass er sich mit geschlossenen Augen in den Zuhörerraum des Opernhauses versetzt glaube.[5] An anderer Stelle heisst es über das Mikrofon, dass sich jetzt jede Biegung und jeder Schmelz der Stimme getreu in den Strömen spiegle und die Stimme die Weichheit und den seelenvollen Klang zurück erhalte.[6]
Nicht unerwähnt bleibt in diesen Artikeln im Hinblick auf den bereits 1874 verstorbenen Philipp Reis, dass es sich in Deutschland um den Wiedereinzug des Telephons handle, dieser “ursprünglich deutschen Erfindung”.
Reis hatte bereits 1861 seine Versuche “über Telefonie durch den galvanischen Strom” im Jahresbericht des Physikalischen Vereins zu Frankfurt am Main dargestellt. Noch, so führt er aus, sei es ihm bisher nicht möglich gewesen “…die Tonsprache des Menschen mit einer für jeden hinreichenden Deutlichkeit wiederzugeben”. Bei seinen Versuchen werden zwar die Konsonanten deutlich reproduziert, nicht aber die Vokale. In seiner Erklärung beruft sich Reis auf Beobachtungen und Vermutungen über die Funktion der “Sprachorgane, Stimmbänder und der Mundhöhle”.[7]
Die Erfindung liegt in der zweiten Hälfte des 19.Jhdts. in der Luft.
In Italien und Frankreich gibt es ebenfalls Wissenschaftler, die daran arbeiten, die menschliche Stimme mit Hilfe der Elektrizität über eine große Entfernung hörbar zu machen. Der Fortschritt, sichtbar an der Erweiterung des Aktionsradius von Gliedmassen und Sinne, der “künstlichen” Ausweitung des Körpers in den Raum, will auch die Dimensionen von Stimme und Gehör vergrößern.
Rufposten und Herolde: Halloooh!
Techniken, große Distanzen durch Stimme zu überwinden, gab es allerdings schon Tausende von Jahren zuvor: Aus dem Perserreich ist der Rufposten bekannt: an hohen Punkten werden Einwohner mit besonders lauter Stimme postiert. Die erste natürliche Verstärkung geschieht durch die Bündelung von Stimmen oder und über Stellvertreter wie Tuba, Horn und Trompete, die besonders im Krieg für Angriff- und Rückzugssignale oder das Lenken militärischer Aktionen eingesetzt wurden.
Der Kriegsgott Ares war dagegen nicht auf blecherne Verstärker angewiesen. Von ihm ist überliefert, dass er schreien konnte wie 10 000 Mann. Auch in der Bibel ist göttliches Erscheinen durch Getöse wie Donnergrollen, Trompeten- oder Engelchor, Hörnerschall und – was fürs Auge – Blitze gekennzeichnet.
Doch nicht alle höheren Mächte sind laut: zu “Sila”, dem höchsten Wesen der Eskimos, der “Seele des Universums” gehört eine zarte und freundliche Stimme.[8]
Neben den transportablen Blasinstrumenten diente als ortsfestes Instrument jahrhundertelang die Glocke der Konstitution von Gemeinschaft. Es wurden damit den Mitgliedern ländlicher Gemeinden alle wesentlichen Informationen übermittelt. Wer sie hören konnte, wusste um den Tagesablauf, um Geburt und Tod, um Hochzeiten, um die Riten des Jahresverlaufs und um christliche Feiern. Die Glocke sichert die Orientierung der Reisenden und läutet für Verspätete. Der laute Schall wehrt ausserdem böse Kräfte ab und ruft die Engel. Die Glocke, so Karl-Heinz Göttert, stamme aus einer Zeit, in der sich Gewissheit verstärkt mit dem Hören verband und Autorität auf akustische Präsenz baute. [9]
Heute rufen uns Verspätete per Handy an, Sturmwarnung wird über Funk gemeldet und übers Telefon erfahren wir von Geburt und Tod derer, die unsere individuelle Gemeinde bilden. Über Massenmedien können wir teilhaben an den Ereignissen in “Global City”. Und an Silvester verschafft uns neben digitalem 0:00 und Böllerkrachen noch immer der Klang der Kirchenglocken Gewissheit, dass das neue Jahr begonnen hat.
Chor, Blasinstrumente und Glocke sind also die uralten Medien zur Verbreitung von Information in die Ferne. Leuchtfeuer und Rauchsignale die entsprechend visuellen Möglichkeiten.
Die Erweiterung des individuellen Sehsinns in die Weite gelang Anfang des 17.Jhdts. durch die Erfindung des Fernrohrs. Entsprechend gibt es zu der Zeit Überlegungen, dass die Sternenwelt auch akustisch erforscht werden sollte und entsprechend das Gehör mittels Instrumenten “zu schärfen” sein müsse. Die Versuche werden aus heutiger Sicht als ein Mix aus Magie und akustischen Tüfteleien bewertet. Mitte des 17.Jhdts. stellt der in Rom lebende Jesuit und Professor der Theologie und Philospohie, Athanasius Kircher, Experimente an mit Röhren, die den Schall reflektieren sollten und dadurch verstärken. Er entwickelt ein Sprachrohr zur Fernübertragung, das in seiner “Neuen Hall- und Tonkunst” beschrieben ist. 1671 dann wird die “Tuba stentoro-phonica, an instrument of excellent use, as well at sea as at land”, von Salomon Moreland vorstellt, der meist als Erfinder des Sprachrohrs genannt wird.[10]
In Anlehnung an diese Erfindungen entwickelt der Mathematiker Johann Sigismund Gottfried Huth 1796 ein Modell zur akustischen Übertragung von Information, für die er, in Anlehnung an die Telegraphie, den Begriff “Telefon” vorschlägt. Von Télos, die Ferne, und phoné, der Ton. Ein Ferntöner.[11]
Ruf mit elektrischer Stimme: Halloooh, wo bist Du?
Rund 80 Jahre später also, 1877, ist es soweit: das vom Generalpostmeister für Deutschland zum “Fernsprecher” erklärte Telefon und somit die Möglichkeit, Sprache und Stimme über eine gewisse Distanz hörbar zu machen, tritt im Deutschen Reich öffentlich in Erscheinung. Zeitschriften und Zeitungen greifen die Idee auf und entwickeln, gern humoristisch verpackt, vermeintlich futuristische Szenarien möglicher Anwendung, die wir, abgeklärt ob multimedialer Kommunikationskombinationen, müde belächeln.
Die Entwicklung hat selbst zu Visionen aufgeschlossen wie der des Physikprofessors W.E. Ayrton aus dem Jahr 1896. Er schrieb: “Einst wird kommen der Tag…wenn Kupferdrähte…nur noch in den Museen ruhen, dann wird der Mensch, der mit seinem Freund sprechen will und der nicht weiß, wo er ist, mit elektrischer Stimme rufen. Es wird gerufen werden: Wo bist Du? Hören kann nur der Mensch, der das gleichgestimmte elektrische Ohr besitzt. Die Antwort wird lauten: Ich bin in der Tiefe des Bergwerks bei Newcastle.-Ich fliege über die Gipfel der Anden.- Ich fahre über den stillen Ozean. Vielleicht wird keine Stimme antworten, dann ist gewiss, der Freund ist tot.”[12]
Aber nicht nur Physiker und Techniker malen sich, kaum dass sich erste Telefonnetze in Großstädten etablierten, detailreich eine telematische Zukunft aus. Vermutlich erstmals 1883 erscheint ein von dem franzöischen Autor Albert Robida verfassert Zukunftsroman über das 20.Jahrhundert. Er beschreibt unter den zukünftigen Formen der Nachrichtenverbreitung eine Telefonzeitung, die von jedermann gegen Gebühr über den Fernsprecher abgerufen werden kann. Die vortragenden Redakteure werden Publikumslieblinge oder fallen durch, wenn sie ihre Nachrichten in unüberhörbarem Dialekt sprechen.[13] Eine für Sprach- und Stimmqualität geschulte Hörerschaft wird also für das zukünftige Jahr 1952, in dem Robida seine phantastische Welt ansiedelt, angenommen. Die historische Realität sieht anders aus: die ganze Welt leidet unter dem Nachhall eines Jahrzehnts, in dem die Stimmen von Hitler und Goebbels zur Basis totaler Propaganda wurden. Heisseres Geschrei, knödeliges Gebrüll, gepresste Stimme, Wortstakkatos transportierten emotionsgeladene Parolen in jeden Winkel, Dialekt kein Hindernis.
Ebenfalls zu Robidas Visionen für 1952 gehörte die Bildtelefonie, die durch die öffentliche Bildtelefonieverbindung zwischen Berlin und Leipzig bereits in den 30er Jahren für kurze Zeit Wirklichkeit wurde: Menschen in der Ferne nicht nur individuell hörbar, sondern gleichzeitig sichtbar zu machen.[14] Und noch eine Vision war wahr geworden, wenngleich Jules Verne, der sie formulierte, vermutlich nicht die Umstände von in Not geschlossenen Kriegstrauungen vor sich sah: “Ja, Herr Violerich! Warum nicht über den elektrischen Draht heiraten?” fragt einer der Protagonisten im Roman “Die Propellerinsel”, veröffentlicht 1895.[15]
Hello, beam me up!
Heute wird dazu geforscht und experimentiert, per Teleportation Objekte an einem Ort aufzulösen und an einem anderen exakt wieder zusammenzusetzen. Es wird ausserdem geklont und es werden Gene verändert. Es werden Brüste mit Silikon und Lippen mit Fett gefüllt, das an anderer Stelle abgesaugt wurde. Und es wird dazu die uralte Frage nach der Identität gestellt. Obgleich vielen Menschen die eigene Stimme nicht gefällt, ist deren operative “Verschönerung” oder Korrektur nicht auf der Angebotspalette der Chirurgen. Stimmbandstraffung im Alter hätte auch wenig Sinn, denn die Stimme entsteht durch das komplizierte Zusammenspiel vieler Faktoren. In Einzelfällen wird eine stimmige stimmliche Identität durch hormonelle Behandlung hergestellt. Erkrankungen wie chronische Heiserkeit oder Knötchen auf den Stimmbändern können durch Abschälen gebessert oder geheilt werden. HNO-Ärzte, Phoniater, Logopäden, Atemtherapeuten, aber auch Psychologen oder Psychiater können gefragt sein, wenn Menschen die Stimme versagt.
Glaubt man den mehr oder weniger belegten Angaben und Umfrageergebnissen bezüglich der Bedeutung der Stimme “auf dem Weg zum Erfolg”, tritt jeder geradezu fahrlässig das mögliche Glück mit Füssen, der seine Stimme nicht durch Schulung und Training optimiert.
Zwar beziehen sich die Erfolgsversprechen bei gekonntem Stimmeinsatz nicht nur auf die telefonische Kommunikation, die sich durch ihre Audiozentriertheit wesentlich unterscheidet vom Gespräch mit dem sichtbaren Gegenüber. Der Verbreitung des Telefons aber verdanken wir meterweise Lehrbücher und Ratgeber über “phone power” und “professionelles telefonieren”, mit jeweils mindestens einem Kapitel über die “Fernsprechwirkung” der Stimme.
Auch ohne eingehende Betrachtung des Phänomens Stimme kann man nachvollziehen, dass die Bedeutung von Worten wie bestimmt, stimmig, oder “etwas stimmt” – als etwas ist wahr, stimmt überein – weit hinaus reicht über die rein körperliche Ausdrucksmöglichkeit.
Mit dem Slogan “So sieht Ihre Stimme aus”, wurde jüngst für die Teilnahme an einer bevorstehende Wahl geworben, in der Hoffnung, dass möglichst viele Stimmen “abgegeben” werden. Es gibt die “Stimme der Heimat”, die “Stimme des Volkes”, die “innere Stimme”, die “andere Stimme”, die “Stimme der Seele”, der “Stille”, des “Herzens”, des “Lebens” und die “Stimme aus dem Jenseits”. Stimmungen und Unstimmigkeiten. Die Stimme ist demnach mehr als nur ein Teil des Menschen, sie vertritt ihn, ist ureigenstes Ausdrucksmittel.
In Indien ist das Wissen über die Bedeutung des menschlichen Stimmklangs zusammengefasst im Nada Brahma, einem System, das bei uns vor allem durch den Jazz-Experten Joachim-Ernst Berendt bekannt wurde. Der Stimme wird darin eine gesundheitsfördernde und heilsame Bedeutung zugeschrieben. Es geht aus von der Beziehung zwischen Stimme, Emotion und Körperbewußtsein und einem Modell von drei Körperoktaven und Tonskalen, die immer an bestimmte Emotionen gekoppelt sind. Vereinfacht: Das Universum besteht aus Schwingung und Frequenz, genau wie der menschliche Körper. Es ist eine Frage des Wahrnehmungsvermögens, dies spüren zu können. Eine Verbindung von Klang und Gesundheit spiegelt auch das englische Wort “sound”, das sowohl die Bedeutung “Klang und Ton” hat, aber auch mit gesund, intakt, zu übersetzen ist: “Of sound mind”, das ist jemand bei geistiger Gesundheit.[16] Auch in unsrem Wort “Person” verbirgt sich “personare”, lateinisch durchklingen, durchtönen.
Ein beeindruckendes Beispiel für die Wahrnehmung von Schwingungen ist die Trommelvirtuosin Evelyn Glennie. Die Musikerin ertaubte schon als Kind und entwickelte und schulte danach ihr Gespür für Schwingungen, der Körper wurde ihr “Hörorgan”. Mit den Fingerkuppen fühlt sie Vibrationen der Trommelstöcke und des Trommelfells. Mit den Fußsohlen kann sie Frequenzen über den Boden wahrnehmen, mit dem Bauch die Bässe.[17] Bereits 1912 beschreibt auch Helen Keller, die sowohl taub als auch blind ist, in “Meine Welt”, dass sie jedes Atom ihres Körpers als “Vibroskop” empfindet, dass Schwingungen ihr Haut, Knochen und Nerven durchdringen, dass Trommelschlag sie von der Brust bis zu den Schulterblättern durchdringt, dass sie das Klirren eines Eisenbahnzuges und das knirschen der Maschine genauso anpackt wie der Handschlag eines alten Seebären.[18]
Nicht notwendig liegt dem ausgeprägten Feinsinn für unterschiedliche Schwingungen der Verlust des Seh- oder Hörsinns zu grunde. Fällt ein Sinn weg, intensiviert sich jedoch oft die Qualität der anderen. Kein ausgeprägtes Feingefühl braucht man dagegen, um die trancefördernde Wirkung der Stimme erleben zu können. Diese wird seit jeher bei Ritualen oder Veranstaltungen mit rituellem Charakter, verstärkt also durch ein entsprechendes Setting, mehr oder weniger bewusst, genutzt. Unter bestimmten Bedingungen kann es zum Effekt der Ich-Auflösung, der Selbstentgrenzung und der Ekstase kommen, in der Kirche genauso wie im Fußballstadion oder bei anderen Massenveranstaltugen.
In physiologischer Hinsicht ist der stimmliche Ausdruck unmittelbar gekoppelt an vegetative Prozesse. Die nervöse Versorgung des Kehlkopfs geschieht über eine Bahn des Nervus Vagus, wonach die Stimme Ausdruck unserer Befindlichkeit ist und sich umgekehrt das Vegetative Nervensystem über die Stimme beeinflussen lässt.
Schon zu Beginn unseres Lebens wird das deutlich, nach dem ersten Schrei, mit dem wir ins Leben explodieren. Ohne sie zu sehen wenden wir uns der Stimme und dem Gehör derjenigen zu, die uns nähren soll. Lallen, err – err – Laute oder “tierisches Gebrüll” sind dann vorsprachliche tonale Varianten und Möglichkeiten, Lust und Unlust zu signalisieren. Dabei sind die stimmlichen Äusserungen des Säuglings reflexgesichert untrennbar mit der ganzkörperlichen Bewegungskoordination verbunden.
Der Hörsinn, der Stimmempfänger, bereits in der 16 Woche unserer Existenz im Mutterleib funktionsfähig, schafft die erste sinnliche Verbindung zur Außenwelt und kann angenehme oder ungute Empfindungen auslösen. Auch das Gehör hat zahlreiche kraftvolle und bedeutsame Verwandte unter den Worten: Vernehmen. Gehören. Gehorchen. Wenn jemand bestimmt, gehorchen wir. Vielleicht. Schließlich ist das menschliche Gehör mit mehreren tausend genaue Daten! Nervenenden ausgestattet und damit das empfindsamste Organ des Menschen. Es trägt auch den Gleichgewichtssinn, dessen Verlust uns schwanken lässt.
Halloooh Telefooon!
Kein Wunder also, dass telefonische Verbindungen, die Stimme und Gehör in Kontakt bringen, alle Aspekte zwischenmenschlichen Umgangs aufweisen können. Die Stimme am anderen Ende der Leitung, die wir durch den Hörer direkt am Ohr haben und damit näher, als das im persönlichen Gespräch mit den meisten Menschen der Fall ist, reicht aus, uns ohne dass wir das Gegenüber sehen, zu erregen oder in Angst und Schrecken zu versetzen. Walter Benjamin beschreibt Anfang der 30er Jahre, wie er sich – den Kopf zwischen die hantelschweren Hörer gepresst – gnadenlos der Stimme ausgeliefert fühlte, die durch das Telefon zu hören war: “Nichts war, was die Gewalt, mit der sie auf mich eindrang, milderte. Ohnmächtig litt ich …und wie das Medium der Stimme, die von drüben seiner sich bemächtigt, folgt, ergab ich mich dem ersten besten Vorschlag, der durch das Telefon an mich erging.”[19]
Sie kann aber auch beruhigen, trösten, erfreuen, bewegen, anrühren, verwirren oder überwältigen. Wir ergänzen ihn dazu, den Menschen:”…es kam keine Antwort, ich hörte ihn atmen, sah seine Augen klein werden, sah seine grosse rote und blonde Hand…”[20] Wir sagen: “ich nehme Dich mit in die Küche”, z.B. wenn wir, die Schnur hinter uns herziehend den Flur verlassen. So da noch eine Schnur ist.
Kein Wunder also auch, dass die telefonische Verbindung zu einem Sinnbild wurde. Es gibt den “heissen” oder gar “glühenden Draht”, die “lange Leitung”, den “Draht nach oben”, die “Strippe, an der wir hängen”. Auch welche, die “nicht auf Draht” sind. Schlimmstenfalls, vergeblich das “Hämmern” auf die Gabel, ist die Leitung unterbrochen oder – tot.
“Sie ist es, die Stimme erreicht uns, ist da. Aber wie fern sie gleichzeitig ist! Wie viele Male habe ich sie nur mit Angst vernehmen können…angesichts der Unmöglichkeit, diejenige zu sehen, deren Stimme meinem Ohr so nahe war…Wirkliche Gegenwart einer so nahen Stimme – bei tatsächlicher Trennung. Aber Vorwegnahme auch einer ewigen Trennung. Oft, wenn ich zuhörte, ohne die zu sehen, die von so weither zu mir sprach, schien es mir, als stiege diese Stimme aus Tiefen klagend auf, aus denen man niemals wiederkehrt…”[21]
Marcel Proust beschreibt in “Die Welt der Guermantes” ein Telefonat mit der Großmutter – wohl einer der einfühlsamsten Texte über die Wahrnehmung der Stimme am Telefon: “Da aber diese Stimme mir in ihren Maßen von dem Augenblick an, da sie für sich ein Ganzes darstellte, ganz verändert schien und isoliert zu mir drang ohne Begleitung durch das Gesicht, entdeckte ich erst, wie sanft und weich diese Stimme klang…”.[22]
“Voices. I think they must go deeper than other things” lautet ein häufig erwähntes Zitat über die Stimme. Es stammt von George Eliot, der sich den Himmel als “made of voices” vorstellt. Da mögen auch Singstimmen gemeint sein, deren Qualität ganz anders beurteilt wird als Sprechstimmen. Himmlische Stimmen also. Göttliche Stimmen. Auf Erden sind es die samtenen Stimmen, die süßen, lieblichen, zarten Stimmen. “Her voice was ever soft, gentle and low”. Deren Wirkung durch das Telefon man sich nicht weniger entziehen kann als den bedrohlichen: “Die süße, zehrende Stimme beschlich ihn, wollte in ihn hinein, um immer in ihm zu flüstern, wollte ihn besetzen” heisst es in der Novelle “Die Sirene” von Dieter Wellershoff. Oder, an anderer Stelle: “…während ihre Stimme, ohne dass er wirklich zuhörte, einfach in ihn überging.”[23] Stimmen gehen unter die Haut, können sich für Jahre einprägen und abgerufen werden, sie verführen. Zarte Bande und erotische Fantasien spielen daher schon früh eine wesentliche Rolle in den Beiträgen über das neue Medium. Es kommt, kaum ist der Fernspecher bekannt, geradewegs zu ersten Fällen telephonischer Hörigkeit. Geschildert wird der Fall des Fabrikanten Müller, der sich nach der Hochzeitsreise eine Telephonleitung zwischen Comptoir und Wohnung herstellen lässt, um so mit seiner geliebten Ludmilla verkehren zu können. Und auch diese “…kannte keine andere Beschäftigung mehr, als das Mündchen zu spitzen und auf den Schwingen der Elektricität dem heiß geliebten Gatten holde Grüsse zu senden und solche wieder von ihm zu empfangen”[24]
Hallo hier Amt, was beliebt?
Ganz besonders in den Mittelpunkt des stimmlichen Interesses gerieten die Vermittlungsbeamtinnen, die als “Fräulein vom Amt” zur unsichtbaren Attraktion der überwiegend männlichen Anrufer wurden. Offenbar vor dem Hintergrund der Annahme, dass die Frau den Beruf nur als Versorgungsmöglichkeit ansehe, eine Art Verlegensheitlösung bis zum erlösenden Anruf, entstanden so alberne Reime wie der vom Fräulein Klärchen Hildebrand, die das Telefon bedient – gewand, genau! Und deren Stimmchen tönt so frisch und frei, am Klappenschranke No. Ja. Sieben.
Die Frauen am Vermittlungsschrank, die in Deutschland bei der Einstellung zwischen 18 und 25 Jahre alt sein sollten und ledig, waren gerade durch die Nichtsichtbarkeit bei anzunehmender Attraktivität Objekt der Begierde. Helmut Gold erwähnt im Ausstellungskatalog über “Das Fräulein vom Amt” einen bereits 1907 erschienen Schlager, der “die Unterschiedlichkeit der Stimmen der Frauen, die daran festgemachten Phantasien und die daraus folgende sexuelle Leidenschaft von Männern” beschreibt.[25]
Die Stimme als sekundäres Geschlechtsmerkmal verfehlt ihre Wirkung auch nicht über grosse Distanz. Schließlich, so die Äußerung eines Staatssekretärs von 1894, erfolge die Einstellung von Frauen, weil durch die höhere Stimmlage des weiblichen Organs die Schallwellen leichter verständlich seien, aber auch, weil der Teilnehmer friedlich werde, wenn ihm eine Frauenstimme entgegentöne.[26] Und der Mythos lebt. Im Jahr 1981 erscheint der Roman “Ich bin verliebt in Deine Stimme” von Konsalik. Er erzählt uns die Geschichte von Ralf Petermann, “den harte Arbeit dahin gebracht hatte wo er heute stand”, als ein Fernamtsgespräch ihn mit einer ungewöhnlich melodischen, jung und bezaubernd klingenden Mädchenstimme in Kontakt bringt. Doch dann: “weg war die Stimme, deren Wandlungsfähigkeit ihn in Erstaunen versetzt hatte.” Um den abenteuerlichen Verlauf der Geschichte nicht zu verraten, sei noch der Schlusssatz zitiert: “Grande amore”![27]
In Wirklichkeit nicht sehr wahrscheinlich, dass den arbeitenden Frauen, die in den Anfangsjahren der telefonischen Kommunikation bis zu 300 Verbindungen pro Stunde herzustellen hatten, die Zeit blieb, sich an den Stimmen der Anrufenden zu entzücken. Die, wie Proust sie bezeichnete, “immerwachen klugen Jungfrauen”, …”Schutzengel auf jenen Pfaden in schwindelnder Finsterniß”, mussten, um einen Arbeitsplatz als Vermittlungsbeamtin zu erhalten, ganz unprosaisch eine Reihe von Eignungsprüfungen absolvieren. Unter 13 geprüften Fähigkeiten, darunter Gedächtnis für Zahlenabfolgen und Reaktionsfähigkeit, sind auch gutes Gehör und gute Aussprache zu finden. Die unablässige Inanspruchnahme von Augen, Ohren und Stimmbändern, der Zwang zur anhaltenden Konzentration, führte dennoch bei vielen der Frauen zu Erschöpfung bis hin zu hysterischen Zusammenbrüchen. Das diffuse Krankheitsbild wurde als Neurasthenie oder Telefonistinnenkrankheit bezeichnet.[28] Vor allem in der dauernden Beanspruchung des Gehörs, das nicht wie die Augen bei Überforderung oder zur Erholung geschlossen werden kann, sah man die Ursache der nervösen Erkrankung. Aber auch die Stimme ist überfordert. Mit den Jahren wird deshalb sprechtechnischer Unterricht, bei dem die Frauen darin unterwiesen wurden “unter Schonung der Stimmmittel deutlich und gut verständlich zu sprechen”, fester Bestanteil der Ausbildung zur Fernsprechbeamtin. Schonung der Sprechorgane bei gleichzeitiger klangvoller und deutlicher Sprache ist das erklärte Ziel.
Nicht mit “Hallo” melden!
Hier knüpfen auch die bereits erwähnten Ratgeber an wie z.B. die “101 goldenen Schritte zum Telefonprofi”. Häufig richten sich diese Publikationen an Frauen, die z.B. im Rahmen ihres Berufes als Sekretärin oder Telefonistin an einer Zentrale “mit Ihrer Stimme die Firma repräsentieren”.
Unter den gängigen Grundregeln beziehen sich einige auf die Organisation des Arbeitsplatzes, andere auf Stimme und Haltung. Man erfährt, dass eine angenehme Botschaft durch den Klang der Stimme und durch Timbre und Tonfall getragen werde. Ein leichtes Zittern in der Stimme könne Verhandlungen ebenso zu nichte machen, wie ein genervter Ton oder zu grosse Forschheit. “Alle hörbaren Feinheiten unseres Seins werden übertragen”! Oder, einige Beispiele aus Checklisten zur Telefonrhetorik, von Könnern mit Ja zu beantworten:
“Können Sie am Telefon eine breite Palette von Gefühlen vermitteln? – Nehmen Sie während des Telefonats eine entspannte Körperhaltung ein, die Ihre Stimme freundlich klingen lässt? – Sprechen Sie so, dass man Ihnen glaubt, dass Sie Erfolg haben wollen und Halbherzigkeit Ihnen fremd ist? – Lächeln Sie beim Telefonieren so, dass man es auch auf der anderen Seite merkt?”- Ist Ihre Stimme zu laut, zu schnell oder zu monoton; strapazieren Sie damit andere ohne jede Notwendigkeit? oder “Zeigt die Klangfarbe Ihrer Stimme, dass Sie bei aller Ernsthaftigkeit Humor haben?”[29]
Telefonieren gehört in vielen Berufen mehr oder weniger zum Alltag, für Mitarbeiter in Call-Centren besteht der Alltag aus Telefonaten. Dabei reichen die angebotenen Dienste von der einfachen Entgegennahme von Aufträgen und Bestellungen zu hochqualifizierter Kundenberatung an “Technik-Hotlines”. Besonders wichtig aber wird die Stimme, wenn es darum geht, mit möglichen Käufern unterschiedlichster Produkte in Kontakt zu kommen. Erfolg heisst dann ganz konkret verkaufen, Außendienst vom heimischen Telefonarbeitsplatz, vielleicht Provision. “Mit nichts als der Stimme Vertrauen schaffen.”
Anbieter von Stimm- und Telefontraining verweisen gern auf wissenschaftliche Untersuchungen, wonach der grösste Teil des Erfolgs von Kommunikation auf Tonalität, Gestik und Mimik des Sprechenden beruhten und nur zu einem geringsten Prozentsatz auf dem Inhalt des Gesagten.[30] Darüber hinaus wird dargestellt, dass wiederum Mimik und Gestik die Tonalität beeinflussen. Ein geschultes Gegenüber “sieht” demnach z.B. an der Stimme, dass der vermeintlich erfolgsgewillte und seriöse Gesprächspartner, eigentlich nur denkbar im ledernen Chefsessel, in Wirklichkeit mit hängenden Schultern und Mundwinkeln auf einem roten Gesundheitsball aus Plastik wippt.
Die dargestellten Regeln sind meist Variationen rhetorischer Überlegungen, die seit Platon angestellt werden, also zu Zeiten, da die “beseelte Rede” noch der Schriftlichen Übermittlung vorgezogen wurde.
Erst die Erfindung des Buchdrucks und damit die Möglichkeit, Informationen lautlos und visuell zu transportieren, gilt als Wendepunkt im Verhältnis der Bewertung von mündlicher und schriftlicher Kultur. Noch das handgeschriebene Buch wurde mit lauter Stimme gelesen. Man hielt es, um das Geschriebene zu verstehen, für unerlässlich, die Worte auch zu hören.
Halloooh! Halloooh! H a l l o o o h!
Platon differenziert in der Rhetorik die Stimme nach Geschwindigkeit, Höhe und Tiefe, Konstanz, Glätte und Rauheit, nach Kraft und Lautstärke. Die Physiognomik zieht erste Schlüsse auf seelische Zustände aus Signalen, die der Körper anzeigt. Dem Tapferen wird demnach eine starke, dem feigen eine weiche und schlaffe Stimme zugeordnet. Im antiken Theater werden Affektzustände standardisiert verkörpert. Wahnsinn, Verzückung, Entrückung, Schmerz, Verachtung, Entrüstung und Prahlerei haben ihren Ausdruck, verkörpert durch Stimme und Gestik der Schauspieler. Beim Verzicht auf Mimik durch Masken kann ein Schauspieler viele Rollen spielen. Allein aus dem Tonfall sollte man auf die ausgedrückte Empfindung schließen können.
In Abgrenzung zum Schauspieler sollte der Vortrag politischer Redner zurückhaltender sein. Zwar galt das Augenmerk auch der Kombination von Stimme, Mimik und Gestik, doch der Redner trete im Unterschied zum Schauspieler für die Wahrheit ein.
Zu lautes Geschrei wurde mit Demagogie gleichgesetzt und nicht geschätzt. Passend, so Qunitilian, sei ein Vortrag, wenn die Stimme das Gemeinte vermittle, eine Stimmung an den Gemütszustand des Richters weitergebe. Cicero geht davon aus, dass das Ohr und damit der Geist, eine natürliche Veranlagung habe zur Messung von Klängen. Das Ohr gilt als “Vorzimmer des Verstehens”, aber auch als “Schleichweg zum Herzen des Hörers”.
Die Einschätzung der Bedeutung der Sinne wandelt sich in den kommenden Jahrhunderten, wobei mit der Gleichsetzung von Sinnlichkeit = das Böse ein Tiefpunkt markiert ist. Die Stimme des Herzens soll ohne rhetorische Feinheiten auskommen, Glaube ist sprachloses Erkennen. In Karl-Heinz Götterts ausführlicher Darstellung der Entwicklung christlich-religiöser Rednerpraxis findet sich für das Mittelalter der Rückzug ins Schweigen in klösterlicher Abgeschiedenheit ebenso beschrieben wie reisserische Auftritte mittelalterlicher Wanderprediger.[31]
Der Diskurs zur Geschichte der Stimme bewegt sich immer wieder entlang der Wertigkeit im Verhältnis von Mimik, Gestik und Stimme zum Gesagten sowie dem Verhältnis von Redekunst und “Stimme des Herzens” oder dem Verhältnis des “schönen Wortes, der brillianten Formulierung, zur Wahrheit. Schiller nennt den Weg des Ohres den gangbarsten und nächsten zu unserem Herzen, Nietzsche das Verständlichste an der Sprache nicht das Wort, sondern die Musik hinter den Worten.
Hallo, Hallo! Reibeisenstimmen und Piepsstimmchen.
Musik hinter den Worten. Gemeint ist nicht Gesang, sondern der Klang der Stimme. Die paralinguistische Ebene, der vokale Bereich, der musische Anteil. Das, was wir auch wahrnehmen könnten, wenn wir ein Gespräch im Dunkeln, in fremder Sprache gesprochen, belauschten. Denn der stimmliche Ausdruck bestimmter Emotionen ist bei verschiedenen Völkern ähnlich. Zwar sind bei der sprachlichen Kommunikation Sprache, Rede, Stimme und Gehör untrennbar verbunden, die Stimme aber gibt allein schon wesentliche Informationen über den Sprecher und dessen emotionale Verfassung. Grundsätzlich lassen die Stimmlage, also Höhe und Tiefe, die Lautstärke und die mehr oder weniger starke Gepressheit einer Stimme Rückschlüsse auf die Emotionen des Sprechenden zu.
Die Interpretation unterliegt allerdings auch gewissen stereotypen Vorstellungen, die sich an sozialen Übereinkünften orientieren. Zu Verwechslungen kann es kommen, wenn die so genannte extralinguistische Ebene, nämlich die der immer vorhandenen Stimmeigenschaften einer Person wie Knarren oder Näseln, einer emotionalen Regung zugeschrieben wird. Wer mit einer sogenannten Grabesstimme spricht, muss nicht unbedingt einen Trauerfall hinter sich haben. Stimmtypen sind neben der knarrenden und näselnden Stimme die Flüsterstimme, die behauchte Stimme, auch Schlafzimmerstimme genannt und immer den Ausdruck von Intimität erweckend, sowie die raue, die Reibeisenstimme. So genannte “Devoicer” sprechen leise und vertraulich und erwarten, dass wer sie hören will, zu ihnen kommt.[32]
“Worauf achten Sie, wenn Sie jemand zum ersten mal treffen?”
Einer von der Zeitschrift GEO beauftragten Umfrage zufolge nannten 40% von 1000 befragten Personen die Stimme. Wichtiger waren zur Beurteilung einer Person nur Gesicht und Kleidung.[33]
Sind diese nicht zu sehen wie beim telefonischen Gegenüber, bleibt die Stimme, die wir in sekundenbruchteilen registrieren und interpretieren: hohe Männerstimmen werden beispielsweise so lange mit Entschiedenheit, Kompetenz und Selbstvertrauen assoziiert, als sie sich nicht Frauenstimmen annähern, was nur noch die Interpretation von Schwäche und Inkompetenz zuzulassen scheint.
Andererseits zeigt eine Untersuchung, dass Frauenstimmen, auch in tiefen Lagen, also männlichen, zumindest positiver eingeschätzt werden als sogenannte Kleinmädchen- und Piepsstimmen. Das Klischee sieht tiefe Stimmen für weise alte Männer vor, wenngleich die in Wirklichkeit hohe und brüchige Stimmen haben. An der heutigen Akzeptanz tiefer Frauenstimmen zeigt sich, dass die Einschätzung mit veränderten Rollenbildern, aber auch mit Mode zu tun hat: “Sie besitzt eine Stimme, die, als die weichen, tiefen, erotischen Frauenstimmen modern wurden, unbedingt über alle den Sieg davontragen musste, die noch die Kühnheit hatten, hoch zu zwitschern oder rein und klar…” [34]
Die Zuschreibungen von Stimme und Persönlichkeit sind also nur bedingt verallgemeinerbar. Sie sollten nicht dazu verleiten, an hand der Stimme ein abschliessendes Urteil zu fällen über einen Menschen oder den Wahrheitsgehalt des Gesagten. Denn was sollte man halten von einem “Eisenbieger aus Sardinien mit dem Stimmklang heiserer Kampfhunde…”, wie der Vater eines Boxers im “Spiegel” charakterisiert wird. Auch die Gefahr, wie Renate aus Mannheim auf einen per Internet kennengelernten Liebeerschwindler hereinzufallen, wäre gross: “Seine Stimme gefällt ihr, sie ist neugierig. Wie wird er aussehen?”[35]
Zwar gibt es inzwischen sogar Lügendetektoren fürs Telefon, die verdächtige Höhen und Tiefen in der Stimme des Anrufers registrieren, doch seriöse Experten forensischer Phonetik, also Kriminologen, die sich mit der Analyse und dem Vergleich von Stimmen befassen, würden sich kein Urteil erlauben darüber, ob z.B. eine telefonisch ausgesprochene Bedrohung ernst gemeint ist oder nicht. Die Möglichkeit, die Stimme zu verstellen und ähnlich dem Pokerface, dessen Inhaber seine Mimik zu kontrollieren versteht, das jetzt unsichtbare Gegenüber durch die Stimme zu täuschen, kennen wir in unterschiedlichen Varianten. Immer wieder werden z.B.Telefonate bekannt, in denen sich Stimmimitatoren der Stimme prominenter Politiker bedienen um so Informationen zu erhalten, die nicht für sie oder die Öffentlichkeit gedacht sind. Vor Gericht verhandelt wurde gar ein Fall von Radio-Werbung, bei der ein Stimmimitator die Sprache Heinz Erhardts nachahmte, und so für ein Produkt warb. Die Werbung war unzulässig mit der Begründung, dass die Persönlichkeitsrechte des “eigentlichen Stimminhabers” verletzte wurden. Wie Name und Bild, die ebenfalls von einer Person lösbar sind, steht der “Persönlichkeitssplitter” Stimme unter gesetzlichem Schutz.[36] Sonst könnte ja jeder kommen: “Macht auf Ihr lieben Kinder, eure Mutter ist da und hat jedem von Euch etwas mitgebracht. Aber die Geißerchen hörten an der rauen Stimme, dass es der Wolf war. Wir machen nicht auf, riefen sie, Du bist unsere Mutter nicht, die hat eine feine und liebliche Stimme, aber Deine Stimme ist rau, Du bist der Wolf. Da ging der Wolf zu einem Krämer und kaufte sich ein grosses Stück Kreide, die aß er und machte damit seine Stimme fein”. [37]
Wer heute Böses plant und deshalb die Stimme verstellt, hat nicht nur sieben arglose Geißlein zu täuschen. Kriminelle, vor allem Erpresser und Entführer, aber auch obszöne Anrufer, die seit der flächendeckenden Verbreitung des Telefons die Möglichkeit nutzen, ihre Forderungen auf diesem Weg zu übermitteln, können durch präzise Stimmanalysen identifiziert werden. Seit den 70er Jahren wurde in Deutschland die forensische Anwendung der Phonetik forciert, und in zahlreichen Fällen spielte die Stimme eines Täters die entscheidende Rolle für seine Festnahme. Die Analyse besteht aus einer “merkmalsorientierten phonetischen Analyse, die durch computergestützte Verfahren ergänzt wird. Differenziert werden können Geschlecht, Alter, muttersprachliche und dialektale Merkmale, Sprach- und Stimmstörungen aber auch z.B. durch Zahnprothesen verursachte Besonderheiten. Für die Stimme werden die Merkmale “mittlere Sprechstimmlage, Moduliertheit der Stimme und Stimmqualität” analysiert. Eine Möglichkeit, stimmliche Details visuell sichtbar zu machen, besteht über Sonagramme oder “Voice-Prints”, neue “Kollegen” von Fingerabdruck und Fahndungsbild. Erschwerend bei der Analyse von Telefonstimmen ist, dass die Übertragung nur in einem eingeschränkten Frequenzbereich stattfindet. Bei Mobiltelefonen, die sich auch bei Kriminellen zunehmender Beliebtheit erfreuen, ist die Sprachqualität zusätzlich durch Datenkompression verringert. [38]
H a l l o ooh Telefooon!
Für die alltägliche, normale telefonische Kommunikation bedeutet das keine Einschränkung. Jeder hat die Möglichkeit, am Telefon, das Stimme und Sprache abgekoppelt von Mimik und Gestik und insofern konzentriert anbietet, das Bewusstsein für Stimmen zu schärfen. Am Radio auch, aber letzteres fordert nicht auf zum dialogischen Einsatz, bei dem wir uns in der Praxis erproben. Das Radio könne als Kulisse verwendet werden, das Telefon verlange die Beteiligung aller Sinne; so trifft Marshall Mc Luhan die Unterscheidung der “magischen Kanäle”. Sehr beliebt sind allerdings Radiosendungen mit telefonischer Publikumsanbindung, ein Dauerbrenner z.B. im SWF “Vom Telefon zum Mikrofon”. Hier wird den Zuhörern das voyeristische Reinhören in erfreute oder aufgeregt zittrige Hausfrauenstimmen ermöglicht, denen der sonore Anrufer mit dem Vorteil des ersten Zugs – jetzt wollen wir mal sehen, ob Frau Meyer zu Hause ist, ihr Enkelsohn hat uns geschrieben – eben diesen Gefühlsaufruhr und ein Lieblingslied entlocken will.
Mehr als 100 Muskeln sind beteiligt, wenn Frau Meyer ihren Hörerwunsch ins Telefon stammelt. Zum zustande kommen der Stimme tragen Kehlkopf mit Stimmbändern, Stimmlippen und Stimmritze, sowie der Vokaltrakt aus Rachen, Mund und Nasenhöhle bei. Den Atem nicht zu vergessen. Mit einem: “kommst Du eben zur Türe herein” kommentieren wir die übers Telefon hörbare Kurzatmigkeit des Gesprächspartners. Wer also seine Stimme pflegen will, sollte zunächst für genug Luft sorgen. Nicht rauchen. Viel trinken, aber nicht Schnaps. Sich nicht räuspern, regelmäßige Stimmübungen praktizieren. Elvis hat das vorgemacht: wer locker ist in den Kniekehlen, ist auch locker in der Kehle. Und sind erst die 100 Muskeln trainiert, kann der Rest nicht schlaff am Hörer hängen.
Hallo, ist da noch wer?
Um das komplizierte Zusammenspiel von Kehlkopf und Vokaltrakt bei der Entstehung von Stimme wusste schon Alexander Graham Bell, der eingangs erwähnte Erfinder des Telefons. Bereits sein Vater hatte ein System von Symbolen entwickelt, die zeigen, wie Zunge und Lippen zur Erzeugung von Lauten geformt sein und bewegt werden müssen. Es war ein System zum Unterrichten gehörloser Menschen, genannt “Visible Speech”. Zusammen mit seinem Bruder Melly versuchte Bell bereits als Jugendlicher, eine Sprechmaschine zu bauen, wobei er an Zunge und Mund arbeitete, der Bruder an Lungen und Kehle. Angeblich sagte die Maschine “ah” und konnte die Laute eines Babys nachahmen. [39]
Bell hätte vermutlich Freude an heutigen “Voice Response Systems”, die Sprache erkennen, sogar den Klang der Stimme erfassen, Emotionen erkennen, “richtig” interpretieren und dann beantworten. Die Laute eines Babys kann längst jede drittklassige Versandhauspuppe nachmachen, dazu pullern und Tränen verströmen. Kleinkindertelefone knarzen einem auf Knopfdruck entgegen: Wie geht’s, wie geht’s, O.K., O.K., und natürlich Halloooh! Halloooh!
Autotüren, Leuchten, Fernsehgeräte und natürlich Telefone erkennen fließend gesprochene Sprache in “Echtzeit” und gehorchen. Rollstühle auch. E-mail-Nutzer kündigen der telefonischen Kommunikation die Treue, denn schließlich erlaubt der vernetzte Computer, der Flüchtigkeit zu entkommen und der Gefahr, in der Eile das Falsche zu sagen. E-mails lassen sich auch mit Stimm-Synthesizern in akustische Schwingungen transformieren, für Menschen mit eingeschränktem Sehvermögen eine grosse Hilfe. Mobiltelefone können bald alles, auch die Gesprächspartner zwergengroß sichtbar werden lassen, überall, jederzeit, Immer mehr Daten werden immer schneller und kostengünstiger übertragen, auch Bilder. Sicher wird es auch künstliche Stimmen geben von unwiderstehlichem Klang, denen man, wie schon immer manchen Menschen, “alles abkauft”. Aber wie die Kirchenglocke eisern ihren Platz behauptet, wird sich die Sorte telefonischer Kommunikation, die allein auf die Kraft der menschlichen Stimme zählt – und auf die Fantasie – nicht verdrängen lassen.
Solange sich Menschen und Medien ergänzen.
[1] Vgl. Die großen Erfindungen. Nachrichtentechnik und Elektronik
[2] Vgl. Clemens Schwender, Wie benutze ich den Fernsprecher? Peter Lang Gmbh, Frankfurt am Main
1997, S. 127/128
[3] Deutsche Verkehrs-Zeitung, Ausgabe vom 30.November 1877, 1.Jg., Nr. 48, S.382 ff.
[4] Daheim, Ein deutsches Familienblatt mit Illustrationen, XIV.Jg., Nr. 10, 1878, S.153 ff.
[5] Illustrirte Zeitung, 29.Oktober 1881, Ausschnitt Slg. Museum für Kommunikation Frankfurt,
G 28/3
[6] Die Gartenlaube, 1863, 807-809, vgl. Karl-Heinz Göttert, Geschichte der Stimme, Wilhelm Fink
Verlag, München 1998, S. 412
[7] Erwin Horstmann, 75 Jahre Fernsprecher in Deutschland, 1877-1952, Bundesministerium für das
Post- und Fernmeldewesen, 1952, S. 37/38
[8] Tom Cowan, Schamanismus, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 2000
[9] Vgl. Karl-Heinz Göttert, Geschichte der Stimme, Wilhelm Fink Verlag, München 1998, Tönende
Botschaften, S.115 ff.
[10] Vgl. Karl-Heinz Göttert, a.a.o., Von Sprachrohren und optischen Telegraphen, S. 347 ff.
[11] Jörg Becker (Hrsg.), Fern-Sprechen, VISTAS, Berlin 1994, vgl. S.15/16
[12] zitiert nach: Archiv für deutsche Postgeschichte, Heft 1 1977, S.26
[13] Archiv für deutsche Postgeschichte, Heft 2, 1978, darin: Herbert Leclerc, Die Televisionen des
Albert Robida, S. 80
[14] Bernd Flessner, Fernsprechen als Fernsehen, in: Jürgen Bräunlein, Bernd Flessner (Hrsg.) Der
sprechende Knochen, Königshausen und Neumann, 2000, S. 29 ff.
[15] zitiert nach: Jörg Becker, a.a.o., S. 36
[16] Joachim-Ernst Berendt, Die Welt ist Klang, Nada Brahma, ein Hörwerk der Network Medien-
Cooperative, 4CDs, Vertrieb 2001
[17] Good Vibrations, in: die tageszeitung, Freitag, 24.Mai 1996, S. 13
[18] Helen Keller: Meine Welt, Stuttgart 1912
[19] Walter Benjamin, Berliner Kindheit um Neunzehnhundert, Frankfurt am Main 1987, S.18 ff.
[20] Wolfgang Hildesheimer, Tynset, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main, 1965, S. 44
[21] Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Die Welt der Guermantes I, Werksausgabe
edition suhrkamp, Frankfurt/Main, 1967, S.173 ff.
[22] Marcel Proust, a.a.o., S. 173 ff.
[23] Dieter Wellershoff, Die Sirene, Kiepenheuer & Witsch, Köln 1992, S. 91, S.40
[24] Zeitungsausschnitt, Holzdruck, Sammlung Museum für Kommunikation Frankfurt, 308-25-02
[25] Helmut Gold, Annette Koch (Hrsg.), Fräulein vom Amt, S.40
[26] Vgl. Helmut Gold, Anette Koch, a.a.o., S. 14
[27] Konsalik, Ich bin verliebt in Deine Stimme, Gustav Lübbe Verlag GmbH, 1996
[28] Vgl. Helmut Gold, Anette Koch, a.a.o., S.99
[29] Helmut Dittrich, Telefonieren professionell und überzeugend, Humboldt Taschenbuchverlag Jakobi
KG, München 1994,
[30] Power Research Seminare GbR, Katalog 2000, Bonn
[31] Vgl. Karl-Heinz Göttert, Geschichte der Stimme, S.40 ff
[32] Vgl. Hartwig Eckert, John Laver, Menschen und ihre Stimmen, Aspekte vokaler Kommunikation, Die
Stimme, Spiegel der Seele, S. 160 ff.
[33]Die Stimme, Instrument unserer Seele, in: GEO, Nr. 12, Dezember 1998
[34] Paul Seiler, Zarah Leander, Ich bin eine Stimme, Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin, 1997
[35] Das Herz ist keine Suchmaschine, in: Süddeutsche Zeitung Magazin, Nr. 30, 29.7.2000, S. 26
[36] Anke Schierholz, Der Schutz der menschlichen Stimme gegen Übernahme und Nachahmung,
Nomos Verlagsgesellschaft Baden-Baden, 1998, S. 64 ff.
[37] Gebrüder Grimm, Grimms Märchen, der Wolf und die sieben Geißlein
[38] Angelika Braun, die forensische Analyse von Stimme und Sprache, in: Horst Gundermann (Hrsg.)
Die Ausdruckswelt der Stimme, 1.Stuttgarter Stimmtage, Hüthig GmbH, Heidelberg, 1998
[39] Vgl. Peter Glaser, Ferner Klang, in: NZZ Folio, Nr. 9, September 1999, S. 71 ff